„Prima Facie“ am Theater Heilbronn

Der Text ist sehr geschickt gebaut. Erst umkreist er die Lebensgeschichte der Darstellerin und zeigt in Ausschnitten, warum sie so geworden ist, wie sie ist. Dass die Star-Anwältin, die Tessa heute ist, sich ihre Position nicht privilegierter Geburt verdankt, sondern kraft- und mühevoll erkämpft hat. Gegen abgehobene Strukturen, deren Vertreter sie eigentich nicht drinhaben wollten. Jetzt ist sie drin in diesen Strukturen und passt sich ihnen dankbar an. Sie hat das System Rechtsprechung verinnerlicht. Das beinhaltet auch, dass vor Gericht die Regel „Im Zweifel für den Angeklagten“ bei – zwangsläufig äußerst intimen – Fragen um sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung dazu führt, dass die Opfer immer dann in der Beweispflicht stehen, wenn die Täter nicht geständig sind. Was für Anwälte wie Tessa nach den geltenden Spielregeln dazu zwingt, die Glaubwürdigkeit der Opfer erschüttern zu müssen.

 

„Prima Facie“ – der erste Augenschein. Gilt in Strafverfahren auf der Basis der allgemeinen Lebenserfahrung als erst einmal gültig, bis ein Gegenbeweis auftaucht. Hier, beim Blick auf Tess im gleichnamigen Stück der Autorin Suzie Miller, die beim Schreiben auf ihren Erfahrungen als Anwältin bauen konnte, ist es auch der erste Augenschein: ein Blick auf die Figur der erfolgreichen Strafanwältin, die sich eingerichtet zu haben scheint in einem erfolgreichen Leben. Das sie nicht hinterfragt, auch nicht ihre Rolle im Spiel von Justizverfahren, in denen sie oft Männer in Sexualstrafsachen verteidigt. Der Text von Miller ist wie ein Korkenzieher: Er bohrt sich Runde um Runde mehr ins Thema hinein. Bis zur Bruchstelle: Tess wird Opfer einer Vergewaltigung. Und steht plötzlich auf der anderen Seite.

 

Der Monolog von Suzie Miller ist ein Stück der Stunde und wird von erstaunlich vielen deutschsprachigen Theatern in dieser Saison aufgeführt. Es beschäftigt sich mit wichtigen gegenwärtigen Themen in der Me-Too-Bewegung wie etwa die immer noch gängige Täter-Opfer-Umkehr, in dem die Opfer von sexueller Gewalt zu Beschuldigten gemacht werden sollen. Damit zusammen hängt ein Rechtssystem, in dem der objektive Beweis in diesen Strafsachen kaum in ähnlich kühler Sachlichkeit darlegbar ist wie bei einem Autounfall. Deshalb ist das Stück auch kein dramatisiertes Pamphlet, als das es hier und da bezeichnet wird, sondern eine Darstellung eines sehr intensiven Lernprozesses. Es ist ein Plädoyer.

 

Mit der Bühnenfigur Tess ist zu lernen, dass sexuelle Gewalt weiter straffrei bleiben kann, so lang ein in patriarchaler Vergangenheit gewachsenes System ihr immer noch gegenwärtige Rankhilfe bietet. Gesetze sprechen oft zu Gunsten derjenigen, die sie gemacht haben. Am Theater Heilbronn hätte das Stück eigentlich als Studioproduktion inszeniert werden sollen, jetzt ist es aber auf der großen Bühne herausgekommen – und gewinnt dabei noch. Denn es sucht explizit die Nicht-Intimität. Es geht aufs große Ganze. Und wenn man dann eine Schauspielerin wie Sarah Finkel hat, die all die Facetten ihrer Figur ausfüllen kann, sie verstehbar macht in ihren Entwicklungen und Brüchen, ihrem Triumph und ihrer Verzweiflung, die auch das große Schauspielhaus bis in die letzten Ecken erreicht, funktioniert das Unterfangen bestens.

 

Sarah Finkel wirkt in den zwei Stunden langem, breitem und großem Monolog dennoch vollkommen unangestrengt. Sie schafft es, auch andere Figuren auf der Bühne zu platzieren, indem sie mit ihnen redet, interagiert, sie auch selbst zu Wort kommen lässt. So sind auf der Bühne oft mehr Personen vorstellbar als die eine, die Finkel darstellt. Sie macht die Welt eines Individuums auf, unterstützt von der Regio von Elias Perrig, der Szene für Szene mit Licht und Ton neue Segmente der Erzählung schafft, mit deutlichen Wechseln. Ansonsten wirkt auch die Regie unangestrengt – und in dieser beiderseitigen Gelassenheit dem Text gegenüber lassen sie ihn zu und zeigen in seinem ganzen kämpferischen kämpferischen Gestus alle menschlichen und individuellen Ausgestaltungen. Jede einzelne der emotionalen Wendungen, die der Text für eine Schauspielerin bieten, machen ihn zu einem großen Angebot als dramatischer Monolog über die Gegenwart.

(Foto: Candy Welz)